Es ist Winter. Der graueste Winter seit 4 Jahren. Langsam aber sicher werde ich nervös, weil ich schon seit Wochen kein einziges vernüftiges Foto mehr schießen konnte, denn dafür brauche ich Licht. Tagtäglich ist es bewölkt, verregnet oder es stürmt. Klar, war ich trotzdem draußen, doch an schöne Fotos ist nicht zu denken.
Aber ich sehe es positiv. Die Natur braucht die Nässe und ich brauchte sowiso schon lange mal wieder Zeit und Muse, längst liegen gebliebenes am Rechner aufzuarbeiten. So auch meine Videos mit der Wildkamera vor nun mittlerweile 1,5 – 2 Jahren, die zufällig auch eine Ricke (weibliches Reh) filmten, welche ich mehr als 2 Jahre lang beobachtete.
Beim Schnitt dieser Videos kamen viele Erinnerungen und Emotionen hoch. So viel, das ich beschloss, über dieses Tier einen Blog zu schreiben. Rehe sind ohnehin meine absoluten Lieblinge unter den wilden Vierbeinern und diese Ricke hatte ich ganz besonders in mein Herz geschlossen.
Anfang 2020 entdeckte ich ein wildes Bauland, welches aus ca. 5 Feldern bestand. Eine reine Hügellandschaft, wo jede Pflanze wild wachsen durfte. Für Wildtiere ein perfekter Ort, denn dort gab es jede Menge Deckung und Rückzugsmöglichkeiten.
Dieser Ort zog auch mich magisch an, denn es gab sehr viel zu entdecken. Kaum Menschen, dafür aber unzählige Wildtiere. Es war wie ein Stück unberührte Natur, die mich oft einlud, ganz in Ruhe die Seele baumeln zu lassen. Mehrmals pro Woche verweilte ich dort und genoss es, versteckt zwischen den Tieren zu sitzen und das Geschehen zu beobachten.
Ich konnte dort nicht nur Rehe beobachten, sondern auch viele Füchse, Feldhasen, Marderhunde, sehr viele Vögel und Insekten. Unter den Vögeln und Insekten tummelten sich sogar stark gefährdete. Ein richtiges Paradies.
Das erste Mal sah ich die Ricke im Januar 2021 zusammen mit einem Rehbock und einem weiteren weiblichen Reh, was sehr wahrscheinlich das Kitz der Ricke war. Ein Rehkitz bleibt fast ein Jahr bei seiner Mutter und wird deshalb auch so lange noch als Kitz bezeichnet.
Im Herbst bis zum Frühjahr bilden Rehe größere Gruppen, damit sie in der kahlen Landschaft besser vor Feinden geschützt sind. Es bildet sich eine Form der „kollektiven Bewachung“. In den Gruppen wird von einzelnen Tieren mithilfe ihrer Sinnesorgane die Umgebung abgescannt, während die anderen äsen (fressen) oder ruhen. Bei Gefahr werden alle Rehe gewarnt. Man nennt diese Gruppen Sprung.
Es befanden sich also mehrere Rehe an diesem Spot und das war für mich der Einstieg, die Tiere genauer zu beobachten.
Im Frühjahr, wenn die Blätter wieder an den Bäumen und Sträuchern sprießen und nach und nach neues Leben erwacht, lösen sich die Sprünge langsam wieder auf.
Die Ricken erwarten ihren nächsten Nachwuchs und stoßen ihr letztes Kitz, welches nun selbstständig genug ist, ab.
In den Monaten Mai und Juni werden die nächsten kleinen Rehkitze geboren, die versteckt in den Wiesen warten, bis ihre Mutter zum säugen kommt.
Leider war es mir nicht möglich, das Kitz in dieser Zeit zu Gesicht oder gar vor die Cam zu bekommen. Die Gräser waren einfach zu hoch und ich wollte es nicht verantworten, dort nach einem Kitz zu suchen. Die Gefahr, ein junges Tier oder in ein Vogelnest zu treten, oder ein Tier zu verschrecken, war zu hoch.
Erst im Spätsommer hatte ich wieder die Gelegenheit, an diesen Spot zu kommen.
Ich saß getarnt im Gestrüpp, relativ dicht am Wegesrand, welcher gerade gemäht wurde, damit die Archäologen in diesem Gebiet arbeiten konnten. Mir war es ziemlich egal, ob ich dort Fuchs, Hase, Fasan, Reh oder Vögel zu sehen bekomme. Ich wollte einfach nur da sein und genießen. Und bestenfalls ein paar schöne Fotos schießen.
Und dann nahm ich eine Bewegung im rechten Augenwinkel wahr. Ich drehte langsam meinen Kopf nach rechts und sah ein Bockkitz über den Hügel auf mich zukommen. Mein Puls schoss nach oben, denn der kleine Bock war nur maximal 10 Meter von mir entfernt. Ich hielt den Atem an und hoffte, das er mich nicht wittern würde.
Hinter dem Hügel erschienen 2 weitere Ohren und dann stieg die Ricke auf den Hügel hinauf. Es war die Ricke, die ich vor weniger als einem Jahr an gleicher Stelle mit ihrem weiblichen Kitz gesehen hatte. Nun hatte sie einen kleinen Bock bei sich.
Ich bekam Gänsehaut und konnte meine Gefühle nicht einordnen. Es war wie ein Traum. Sollte es tatsächlich die gleiche Ricke vom letzten Winter sein, die ich da sah? Die beiden kamen direkt auf mich zu. Ich hoffte so sehr, das sie mich nicht bemerken und nicht unnötig gestresst werden.
Beide liefen in Ruhe an mir vorbei. So nah, das die Naheinstellgrenze meiner Kamera es nicht zuließ, ein scharfes Foto hinzubekommen. Die Tiere waren weniger als einen Meter von mir entfernt. Meine Hände zitterten und ich war froh, das die beiden meine weit aufgerissenen Augen duch die Tarnung nicht sehen konnten.
Etwa 2-3 Meter weiter blieben sie stehen und begannen zu äsen. Noch immer traute ich mich nicht richtig zu atmen. Stocksteif saß ich hinter der Kamera. Das einzige was sich bewegte, war mein Zeigefinger auf den – glücklicherweise lautlosen – Auslöser.
Die Ricke entfernte sich langsam und der kleine Kitzbock äste in aller Seelenruhe weiter. Ein unglaublich schöner Moment, den man mit Worten kaum beschreiben kann.
Die nächsten Tage und Wochen konnte ich die Beiden noch einige Male beobachten. Immer wieder waren sie an der gleichen Stelle anzutreffen. Der kleine Bock machte den Eindruck, ein kleiner Draufgänger zu sein. Immer öfter hörte ich ihn bellen, wenn es nur irgendwo im Gestrüpp raschelte. Dabei stellte er sich protzend auf einen Hügel und zeigte seine ganze Schönheit.
Dann kam der nächste Winter.
Die Ricke und ihr Bockkitz hatten inzwischen ihr Winterfell und nun wirkte der kleine Bock schon richtig massig.
In den letzten Monaten hatte ich Marderhunde in dem Gebiet gesehen und wollte sie beobachten. Tagsüber sind sie nur schwer zu entdecken. Deshalb stellte ich an den Spots, wo ich sie vermutete, Wildkameras auf, um zu schauen, wann sie sich blicken lassen. Natürlich nur an Stellen, wo mit Sicherheit kein Mensch, außer mir, vorbei kam. Mit Erfolg.
Doch noch viel schöner war es, „meine“ Ricke, die ich schon seit Monaten im Visier hatte, ebenso vor der Wildkamera zu haben. Sie schien sich vor der Kamera besonders wohl zu fühlen. Obwohl sie die Kamera und damit auch meinen Geruch schon länger kannte, äste und ruhte sie immer wieder genau vor der Cam. Ich konnte sehen wie sie sich putzt und das Leben genießt. Hin und wieder wurde die Kamera auch ausgiebig beschnüffelt.
Mithilfe der Kamera konnte ich ihre nächste Tragzeit beobachten und es waren wahre Gänsehautmomente für mich! Unter anderem konnte ich sehen, wie sich das kleine Kitz in ihrem Bauch bewegt. Die Ricke stellte sich genau mit ihrem Babybauch vor die Kamera. Als ich das sah, bekam ich feuchte Augen. Dieses Tier wuchs mir immer mehr ans Herz.
Natürlich lasse ich euch gern an den Bildern teilhaben und verlinke die besten Wildkamera-Videos am Ende des Blogs.
Leider wuchs im Frühjahr wieder alles zu, so das ich auch in dem Jahr keine Gelegenheit hatte, die Tiere dort weiter zu beobachten. Auch Kitz Nummer Drei sollte ich wohl wieder erst im Alter von ein paar Monaten zu sehen bekommen. Doch ich gönnte ihnen diesen Wildwuchs von Herzen. Dort konnten sie sich ungestört aufhalten, ohne ständig in Fluchtbereitschaft sein zu müssen. Ich kenne leider kaum noch Gebiete, wo die Wildtiere so viele Rückzugsmöglichkeiten haben, wie auf diesen unbewirtschafteten Feldern.
Im August fuhr ich wieder zu diesen Feldern, um zu schauen, ob die Archäologen dort eventuell wieder ein paar Wege frei mähen lassen hatten, wie im Spätsommer des vergangenen Jahres.
Dort angekommen traute ich meinen Augen kaum. Mir stockte der Atem, ich bekam einen Kloß im Hals und gleichzeitig stellten sich alle meine Körperhäärchen auf.
Die Bagger hatten begonnen, diesen seit mehreren Jahren von Menschen ungenutzten Ort platt zu machen. Es tat mir in der Seele weh.
Die meisten der dort lebenden Tiere sollten nun ihren Lebensraum verlieren. Darunter sehr selten gewordene Vogelarten, wie der Bluthänftling, das Braunkehlchen, der Kiebitz und das Rebhuhn.
Viele weitere Vogelarten hatten dort ein perfektes Brutgebiet, wie das Schwarzkehlchen, die Feldlerche und der Neuntöter.
Auch der Stieglitz, Bergfink, Kuckuck, Nachtigal, Steinschmätzer, Teichrohrsänger, Wacholderdrossel, Wiesenpieper und viele weitere Vogelarten waren dort regelmäßig anzutreffen.
Etliche Insektenarten fühlten sich in der verwachsenen Landschaft wohl. Darunter auch der Schwalbenschwanz, der bei uns als stark gefährdet eingestuft ist. Nicht nur einmal konnte ich beobachten, wie sich der schöne Falter an diesem Ort fortpflanzte.
Erst im Frühjahr hatte ich dort meine ersten Fuchswelpen beobachtet und fotografiert. Zum ersten und letzten Mal.
Ich hatte all die Tiere, die ich auf diesen Feldern beobachtet und fotografiert hatte, gleichzeitig vor meinen feucht gewordenen Augen. Vor allem auch „meine“ Rehe.
Noch waren die Bagger nicht an dem Feldstück, wo sich die Ricke, die ich die ganze Zeit beobachtet hatte, aufhielt. Ich hatte also Hoffnung, sie noch einmal zu sehen. Und ich wünschte mir so sehr, auch ihr neues Kitz noch sehen zu dürfen. Doch bis auf ein paar Jungfüchse, die wild über die Felder liefen, sah ich nichts.
Ich fuhr in jeder freien Minute zu den Feldern. Und immer wenn ich dort war, war ich unendlich traurig. Die Bagger kämpften sich Stück für Stück immer näher an die letzte Stelle, wo die Ricke ihr Zuhause hatte.
Knapp 4 Wochen später war es soweit. Ich fuhr abends noch zu den Feldern, um nach der Ricke zu sehen, wenn die Bagger still standen. Langsam und vorsichtig schlich ich mich an einen der letzten, übrig gebliebenen Hügel und setzte mich getarnt in einen der letzten Sträucher.
Keine 10 Minuten später trat ein kleines Reh vor den Hügeln hervor. Es war ein weibliches Kitz.
Die Kleine äste vor meiner Kamera und sah sich dabei aber immer wieder aufgeregt um. Entspannt wirkte sie nicht. Für mich war es ein Wechselbad der Gefühle. Ich war mir sicher, das ich das Kitz vor Augen hatte, dessen Bewegungen ich im Bauch seiner Mutter beobachten durfte. Ein unglaublich schönes Gefühl, wenn da nicht die Bagger gewesen wären.
Während ich ein paar Aufnahmen von der Kleinen machen konnte, trat ihre Mutter vor dem Hügel hervor. Die Ricke, die ich seit über 2 Jahren beobachtet hatte. Einerseits freute ich mich, sie und ihr nun drittes Kitz noch einmal gesehen zu haben. Doch der Anblick war alles andere als schön.
Sie hatte glasige Augen und wirkte unterernährt. In den Flanken war sie extrem eingefallen und man konnte ihre Rippen sehen. Es war nicht die Ricke, die ich die letzten Monate beobachtet hatte. Zumindest optisch nicht. Sie hatte stark abgebaut und sah überhaupt nicht gut aus.
Auch von ihr machte ich ein paar Aufnahmen, die ich anschließend zwei mir bekannten Jägern schickte und um Rat bat.
Beide Jäger stimmten mir zu, das die Ricke krank aussieht und wir waren uns alle drei einig: Es konnte an dem Stress liegen, den sie aufgrund der plötzlich veränderten Umstände erlitt. Somit war es erst einmal besser nichts zu unternehmen, denn eine Meldung beim zuständigen Jagdpächter hätte ihren Tod bedeuten können.
Einer der Jäger meinte, ich solle mal ihren Spiegel (den Po) ansehen, sofern ich noch Gelegenheit dazu hätte. Sollte er mit Kot verschmiert sein, ist das kein gutes Zeichen. Also fuhr ich ab sofort erst recht so oft ich konnte zu ihr.
Das nächste Mal sah ich sie nur noch auf der Flucht. Die Bagger überrollten das letzte Stück der Hügellandschaft und ich sah meine Ricke und ihr Kitz wie zwei Pfeile über die Felder düsen. Irgendwo ins Nirgendwo. Der Anblick zerbrach mir das Herz! Mit Tränen in den Augen und zittriger Stimme wünschte ich ihnen noch alles Gute und das sie schnell einen neuen, ungestörten Ort finden, an dem sie sich wohl fühlen und die Ricke wieder zu Kräften kommt.
Es war ein Moment, an dem ich mich schämte, ein Mensch zu sein. Zu gern hätte ich den Tieren geholfen, doch hier war ich leider machtlos. Immer mehr Flächen in der Natur werden bebaut. Neue Siedlungen, Straßen, Industrie. Und die Wildtiere haben immer weniger Fläche zur Verfügung, auf der sie ungestört leben können. Glaubt mir, wenn man DAS hautnah erlebt hat, denkt man ganz anders darüber, als wenn man es nur in den Medien verfolgt. Nur beim Gedanken daran stellen sich direkt wieder meine vielen kleinen Körperhäärchen auf.
Glücklicherweise können einige der Wildtiere recht gut mit Veränderungen in unserer Kulturlandschaft umgehen und passen sich an. So auch die Füchse und die Rehe. Wobei ich mir bei den Rehen nicht wirklich sicher bin.
Ein paar Wochen später besuchte ich wieder diese Felder. Auch wenn es mich sehr erfreute, statt Beton nun bewirtschaftete Felder zu sehen, tat es noch immer weh, nun deutlich weniger Wildtiere an diesem Ort beobachten zu dürfen.
Es gab deutlich weniger Vögel. Die Füchse hatten sich neue Gebiete gesucht und Insekten waren nicht mehr so zahlreich vorhanden. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die Rehe dagegen hatten inzwischen neue Sprünge gebildet. Größere Sprünge als zuvor, denn nun gab es kaum noch Deckung für sie, wo sie unbeobachtet äsen und ruhen konnten. Ich zählte in dieser Saison 24 Rehe in einem Sprung.
Natürlich investierte ich wieder einiges an Freizeit, um die Tiere zu beobachten und zu fotografieren. Und dann gab es eine Überraschung.
Als ich zu Hause am Rechner meine Fotos sichtete, erkannte ich tatsächlich meine Ricke in diesem Sprung. Aufgeregt verglich ich die Fotos mit den älteren Fotos und mein Strahlen im Gesicht wurde immer größer. Sie hatte exakt die gleichen Augen und die gleiche alte Verletzung an einer bestimmten Stelle. Es machte mich unheimlich glücklich, sie lebend wieder zu sehen.
Einige Tage später war ich wieder mit meiner Cam vor Ort. Ich sah, wie sich die Ricke im Winterweizen ablegte. Ihr Kitz kam zu ihr und ich hatte das Gefühl, es würde sich um seine kranke Mutter kümmern. Wirklich erholt hatte sie sich leider nicht.
Kurze Zeit später stand die Ricke auf. Sie wirkte schwach und gebrechlich.
Seitdem habe ich die Ricke, die ich unheimlich in mein Herz geschlossen hatte, nicht mehr gesehen. Ich weiß leider nicht, wo sie sich nun außerhalb des Winters aufhält.
Natürlich besuche ich auch in diesem Winter wieder die Felder. Doch bisher war nur ein Sprung von 10 Rehen zu sehen. Die Rehe stehen inzwischen mitten auf dem offenen Feld und für mich ist es kaum noch möglich, mich ungesehen an sie heran zu pirschen. Die Gefahr, sie unnötig aufzuschrecken und zu stressen, ist mir zu groß. Sie brauchen ihre Energie.
Von weitem ist meine Ricke leider nicht erkennbar. Ich werde weiter schauen, der Winter ist noch lang. Sollte ich sie entdecken, gibt es hier ein update. Ich wünsche es mir von Herzen!!!
Und hier kommt das Video, wo ich die Ricke per Wildkamera durch ihre Tragzeit begleiten durfte:
Auch weitere Wildkamera-Videos gibt es auf meinem Kanal zu sehen. Unter anderem Rehkitze oder die oben erwähnten Marderhunde.
Und wenn ihr euch für die Metamorphose von Schmetterlingen interessiert, seid ihr auf meinem Kanal auch genau richtig.
Schaut gern mal vorbei. Ich würde mich freuen!
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